Jagd am Abend
Was hat der Hund nur? Seit mindestens zehn Minuten tobt Jana am Tor wie eine Wilde und lässt sich nicht beruhigen. So verrückt gebärdet sie sich sonst nur bei der Zeitungsfrau, die morgens immer aufs Neue versucht, unbehelligt das Druckerzeugnis im Kasten zu deponieren.
Die Gitterstäbe sind eng, der Zaun hoch genug. Jana kann auf keinen Fall raus und der Frau an den Hals springen. Dennoch hat diese einen Heidenrespekt vor dem Hund. Hätte ich auch.
Wenn ein Fremder sich unserem Grundstück nähert, führt sich Jana auf, als hätte sie mindesten zwei Wochen nichts gefressen und gerade auf diesen Menschen Appetit. Leider kam es schon einmal vor, dass Jana abgehauen ist.
Gerade in dem Moment, als ich das Tor öffnete, um herauszufahren, kam unsere Zeitungsfrau an. Ehe ich es mich versah, war der Hund raus. Die Botin stieg gar nicht erst aus (sie kommt immer mit einem grünen Golf), sondern rollte zügig weiter, wendete hinten und fuhr zurück ins Dorf, um dort ihre Presse loszuwerden. Jana rannte hinterher. Es war ihr eine sichtliche Freude, das verhasste Auto zu vertreiben. Vorn an der Straße gab sie schließlich auf. Das Auto war zu schnell.
Seitdem macht sie noch mehr Radau als vorher, schon wenn sie das Fahrzeug um die Ecke fahren sieht. Sie wartet jeden Tag richtig darauf.
Angestrengt versuche ich, im gegenüberliegenden Unterholz etwas zu entdecken. Fehlanzeige.
„Hör auf, Jana. Ist gut jetzt! Da ist nichts!“
Meine Beruhigungsversuche verlaufen ergebnislos. Wir werden wohl oder übel nachsehen müssen. Sicher hat nur ein freches Eichhörnchen gewagt, auf einem der Bäume herumzuturnen.
Ich hole die Leine, öffne das Tor und greife nach meinem Hund.
Jedenfalls will ich das.
Aber wo meine Hand hinlangt und sich vor einer Sekunde noch eine fünfundsechzig Zentimeter hohe und zweiundvierzig Kilo schwere Kaukasenhündin befand, ist nichts mehr. So schnell wie Jana mich beiseite geschubst und an mir vorbei in den Wald geflitzt ist, konnte ich gar nicht hinterher schauen. Sie rast ins Dickicht und scheint auch wirklich etwas gefunden zu haben. Vor einem umgestürzten Baum, der inmitten alter, halbvermoderter Äste und Baumstümpfe liegt, hat sie Stellung bezogen und bellt ohne Pause.
Vorsichtig folge ich ihr.
Vorsichtig deshalb, weil es hier jede Menge dorniges Gestrüpp und noch mehr Brombeerranken gibt, die nur auf mich gewartet haben. Jetzt wo ich endlich in ihrer Reichweite bin, schlingen sich die stachligen Zweige um meine Beine und wollen mich zu Fall bringen. Wenn ihnen das auch nicht gelingt, so soll ich wenigstens ordentlich zerkratzt werden.
Das schaffen sie.
Als ich bei Jana ankomme, versucht sie abwechselnd mit Vorderpfoten und Schnauze in einen hohlen Baumstamm einzudringen. Leider sind die Pfoten zu kurz und der Kopf zu dick.
Aufgeregt schnauft sie mich an.
Ich untersuche das Objekt ihrer Neugierde.
Irgendetwas ist da drin. Jetzt wird es spannend. Ich will nun ebenfalls wissen, wer sich da vor uns versteckt. Womit kann ich den Unbekannten rauslocken? Lange muss ich nicht suchen, schon halte ich einen geeigneten Ast in der Hand und stochere damit in der engen Öffnung herum. Wütendes Fauchen schlägt mir entgegen. Oha, wir haben einen ganz energischen Burschen aufgeschreckt.
Jana setzt ihre erfolglosen Versuche fort.
Wer mag da wohl sein?
Und vor allem, wie bekommen wir ihn raus?
Wildes Klopfen auf dem Stamm beeindruckt den Insassen nicht im Geringsten.
Jana rennt hin und her, während ich angestrengt nachdenke. Vielleicht sollten wir den Stamm und seinen Bewohner einfach in Ruhe lassen und unseres Weges gehen?
Ich habe eine Idee.
Dass ich nicht schon eher drauf gekommen bin!
Den Ast kann ich als Hebel benutzen, stark genug ist er. Der Stamm liegt günstig hinter einem zweiten. Mal sehen was passiert, wenn ich versuche, ihn von seinem Platz zu rücken. Leicht scheint er nicht zu sein.
Nach zwei erfolglosen Versuchen bewegt er sich um einige Millimeter. Jana zeigt größtes Interesse an meinen Bemühungen. Ich probiere es noch einmal. Der Stamm wippt leicht und bricht dann langsam, fast widerwillig, auseinander.
Mann, bin ich stark!
Es ist ein Wunder, dass dieses halbverfaulte, morsche Stück Holz, in dem es von Kellerasseln nur so wimmelt, überhaupt so lange zusammengehalten hat.
Der Baum fällt auseinander, gleichzeitig schießt ein kleines, braunes, pelziges Etwas an mir vorbei.
Ein Marder!
Hier hast du dich versteckt, alter Schlingel.
Mein Nachbar jammert mir seit Wochen die Ohren voll, dass seine Hühner so wenige Eier legen. Allerdings hat er auch schon ein paar leere Schalen auf seinem Hof gefunden und bereits einen Marder in Verdacht gehabt.
Hier also hat der Übeltäter sein Quartier. Ist schon ungewöhnlich. Meist suchen diese niedlichen Räuber auf Bäumen, lieber noch auf Dachböden und unter Schuppendächern Unterschlupf. Im Zwischenboden meiner Garage waren auch schon welche. Die haben vielleicht Radau gemacht. Unser Hund wuselte während dieser Zeit ständig um die Garage herum und wusste nicht, wohin er zuerst bellen sollte.
Der Marder flitzt also an mir vorbei, froh seinem Belagerer entkommen zu sein, hat jedoch nicht mit der zweiten Reihe gerechnet. Da steht Jana und ist schneller als der Kleine. Sie fasst zu, der Braune schreit auf, aus ist’s. Sie hat ihm mit einem kräftigen Biss die Wirbelsäule gebrochen.
Durch den Todesschrei des Marders ist der Schäferhund zwei Höfe weiter munter geworden und bellt wie verrückt, obwohl er gar nicht weiß, worum es geht.
Das macht er öfter. Jana veranstaltet zwar auch immer viel Lärm, aber sie weiß warum, und wenn es auch nur eine freche Katze ist, die ungerührt direkt am Zaun vor Janas Nase entlang spaziert. Da muss ein pflichtbewusster Hund selbstverständlich versuchen, den ungebetenen Gast zu vertreiben. Es bleibt immer beim Versuch, denn ob Katze oder Reh, die Tiere wissen ganz genau, dass der hohe Maschendrahtzaun sie schützt und lassen sich erst recht viel Zeit.
Jana ihre Beute abzunehmen, gelingt mir erst beim vierten Versuch. Wieder und wieder schüttelt sie das leblose Bündel nach Kräften hin und her. Totschütteln nennt man das wohl. Zu guter Letzt gibt sie den toten Marder her. Ich lege ihn in die Kuhle vor mir. Dann rolle ich die beiden Teile des alten Baumes darüber.
Das reicht. So kann keiner ran.
Armer Kerl!
Ein bisschen tut er mir leid. Er wollte schließlich auch nur leben. Aber es hat ihn das Schicksal aller Räuber ereilt.
So Jana, wenn wir einmal draußen sind, können wir auch gleich spazieren gehen. Ich ziehe sie von der Stelle weg, weiter in den Wald hinein, bis wir auf einen schmalen Pfad treffen. Wir wenden uns nach rechts und erreichen wenig später den Hauptweg, der von der alten Schenkenberger Straße in Richtung Galgenberg abzweigt. Wir gehen hangwärts, um dann in einem großen Bogen am Feldrand wieder hier anzukommen. Zwar ist die Entfernung zu den Häusern jetzt schon ziemlich groß, dennoch kann ich die neugierigen Nachbarsleute am Zaun stehen sehen. Beide schauen angestrengt in meine Richtung und versuchen, etwas zu erkennen.
Pech gehabt!
Ihr Hund bellt immer noch. Jana stört das nicht.
Auch scheint sie ihre Jagd schon vergessen zu haben und drängt nur vorwärts. Na dann los, Dicke. Es ist schon spät und ein Gewitter im Anzug. In letzter Zeit kann man fast darauf warten. Immer wenn wir zwei losgehen, regnet es kurz darauf. Da muss uns doch einer dort oben nicht leiden können. Und wirklich, als hätten sie nur auf uns gewartet fallen auch schon bald die ersten dicken Tropfen. Ihnen folgen weitere nach, die ebenfalls jede Menge Brüder und Schwestern haben. So sind wir am Ende unseres Spazierganges, der heute deutlich kürzer ausfällt, richtig schön durchgeweicht. Ich jedenfalls.
Jana schüttelt sich nur kurz, macht mich dabei noch nasser, als ich ohnehin schon bin und sucht ihren Fressnapf.
Nun mal nicht so ungeduldig meine Liebe. Den gibt es erst, wenn Herrchen wieder trocken ist. Bei dem ist es mit Schütteln nicht getan.