In der Rückschau möchte ich nicht behaupten, dass wir arm waren, da gab es ganz andere Schicksale, sehr viel fehlte aber dazu nicht.
Es waren die Kleinigkeiten, an denen ich hätte merken können, dass im Portemonnaie der Familie Walther meist Ebbe herrschte. Die Brotsuppe am Monatsende zum Beispiel, die wie auch im Sommer die Holunderbeersuppe ganz ausgezeichnet schmeckte, der luftbereifte Roller, den ich nie bekam, das gebrauchte Fahrrad aus dem Fundbüro, das ich mir geduldig zusammensparen musste, oder der Fernseher, den wir uns erst leisteten, nachdem die ersten Erfahrungen meiner Freunde mit Pitti Platsch und Professor Flimmerich(xx) bereits Jahre zurücklagen.
Jedoch habe ich als Kind nie etwas entbehren müssen und kann sagen, eine schöne Kindheit er- und verlebt zu haben.
Meine Eltern sparten an allen Ecken und Kanten. So wurde natürlich kein Butterbrotpapier gekauft, sondern das Pausenbrot in einer leeren Mehl- oder Zuckertüte mitgegeben, mit der Ermahnung, diese wieder mit nach Hause zu bringen. Sämtliche Tüten, in denen man Ware aus dem Konsum nach Hause trug, wurden aufgehoben und einer Wiederverwendung zugeführt. Sie kamen zum Beispiel zum Einsatz, wenn mich der kleine Hunger nach oben brüllen ließ:
„Muddiääh, schmeiß mor mol ne Bemme rundorr!“
Hatte sie es gehört, kam wenig später eine Papiertüte mit einer Klappstulle darin aus dem Küchenfenster geflogen. Dünn geschmierte Margarine und darauf Zucker gestreut.
Brot, Brötchen und Kartoffeln holten wir im Netz, im Stoffnetz mit Ledertragegriffen.
Die „Brodsupp“ war etwas ganz Feines. Altes, hart gewordenes Brot wurde in einen Topf geworfen, heißes Wasser darüber gegossen, ein Eßlöffel Butter kam dazu, eine Knoblauchzehe, Pfeffer und Salz – fertig.
Ein beliebtes Gericht am Wochen- bzw. Monatsende war marinierter Hering und Pellkartoffeln. Da ich jeglichen Fisch verabscheute, machte meine Mutter mir damit keine Freude. Ich stocherte im Essen herum und saß ewig am Tisch („Du bleibst solange sitzen, bis du aufgegessen hast!“). Schließlich spießte ich die Pellkartoffeln auf die Gabel, ließ sie fünf Minuten lang abtropfen, schob sie in den Mund und schluckte sie runter so schnell es ging. Den Hering habe ich nie angerührt, und wenn ich bis zum Sankt Nimmerleinstag hätte sitzen müssen. Gern wurde bei solchen Gelegenheiten das Elend in der Dritten Welt thematisiert:
„In Affrigga hungorn di Neschorkinnor, un du meggorst dahier am Essn rum!“
Als kleines Kind besaß ich ein blaues, eisernes Dreirad mit schwarzen Gummigriffen und roten Rädern, später einen Holzroller mit Doppelrädern hinten und einem Winker vorn. Mit diesen Gefährten durfte ich an den Rad- und Rollerrennen der Großen teilnehmen, natürlich außer Konkurrenz. Sie gaben mir Vorsprung bis zur Ecke und hatten mich an der nächsten Kreuzung eingeholt. Tief in meinem Innern wünschte ich mir einen luftbereiften Roller mit Klingel und Hinterradbremse, wusste jedoch gleichzeitig, dass ein solch teures Gefährt nicht auf Geburtstags- oder Weihnachtstisch stehen würde, also habe ich diesen Wunsch auch niemals laut geäußert.
Wieviel Taschengeld ich als Kind und als Jugendlicher bekommen habe, weiß ich nicht mehr, aber ich weiß, dass es Ein-Mark-Scheine und Zwei-Mark-Scheine gab, und auch Fünfzig-Pfennig-Scheine fanden sich in den fünfziger Jahren im Portemonnaie.
Als meine Schwester in der neunten oder zehnten Klasse war (oder in beiden Jahren) bekamen meine Eltern „Erziehungsbeihilfe“, dreißig oder vierzig Mark pro Monat. So was gab es 1963.
Irgendwann war Jugendweihe. Die Jugendweihe selbst war wegen des geschenkten Geldes (insgesamt dreihundertfünfzig Mark) bedeutsam, die anschließende Fahrt wegen der intensiven, zwischenmenschlichen Kontakte und eines alkoholhaltigen Mischgetränkes namens „Vipa“.
Ein Teil des Geldes diente der Mitfinanzierung meines nächsten Weihnachtsgeschenkes, einen Plattenspieler mit vier Geschwindigkeiten und eingebautem Lautsprecher.
„Big Beat“, die erste Schallplatte, eine LP mit den Sputniks, den Butlers, dem Franke Echo Quintett und der Theo Schumann Combo, gab es bereits Wochen zuvor zum Geburtstag.
Von meinem Onkel Siegfried aus Hauptmannsgrün, gab es eine automatische Armbanduhr sowjetischer Bauart (mindestens hundertfünfzig Mark – ein Schweinegeld) und das „Neue Testament“ mit Goldschnitt und Lesebändchen.
Onkel Siegfried war nicht nur mein Patenonkel sondern auch Bauer und als solcher mit einer diesbezüglichen Schläue ausgestattet, die ihn in den Nachkriegsjahren zu einem gewissen Wohlstand gelangen ließ. Leider besaß er die fast allen Wohlhabenden zugeschriebene Eigenschaft – den Geiz. Deshalb verwundert es mich im Nachhinein umsomehr, dass er mir ein derart teures Geschenk machte. Es war wohl mehr eine Demonstration denn eine Wohltat, vor allem in Verbindung mit dem „Neuen Testament“ mit Goldschnitt und Lesebändchen.
Onkel Siegfried schimpfte bei jeder Gelegenheit auf die LPG (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft), deren Mitglied er war, zwangsweise, was er zu betonen nicht müde wurde. Dabei übersah er geflissentlich, dass es ihm und allen anderen Bauern durch die gemeinsame Bewirtschaftung der Felder besser ging und die Arbeit wesentlich erleichtert wurde durch den Einsatz von Maschinen, die sie sich als einzelner Bauer nie hätten leisten können.
Und so ging es der Tröger in Hauptmannsgrün bei Reichenbach im Vogtland recht gut. Neben dem Ackerland besaßen sie ein großes Stück Wald und einen respektablen Hof. Im Stall standen an die zwanzig schwarzgefleckte Milchkühe, Schweine grunzten in ihren Verschlägen und gaben regelmäßig Ferkel, Wurst und Schinken. Vom Flur des Wohnhauses führten rechter Hand zwei Türen in den Pferdestall. Auf dem Hof flatterte das Federvieh und stritt um die besten Plätze auf dem Misthaufen vor der Scheune. Ein ständig schlecht gelaunter Kettenhund versuchte unermüdlich, die Waden der Gäste zu erwischen. Zweimal im Jahr gab es Katzennachwuchs, von dem es manchmal ein Kätzchen schaffte, den mordlustigen Bauersleuten zu entkommen, um als erwachsene Katze streichelnde Hände zu zerkratzen.
Die Jugendweihefeier bestand im Wesentlichen aus essen, trinken, rauchen und reden. Zu vorgerückter Stunde zogen sich die Onkels zurück und erzählten unanständige Witze. Bei den Tanten war ich nicht zugegen.
Am ersten Schultag nach der Jugendweihe, an dem wir zwei Stunden später zur Schule kommen durften, baute sich der Lehrer vor der Klasse auf und meinte:
„Jetzt muss ich euch wohl oder übel mit „Sie“ anreden“,
worauf ein Schüler schlagfertig erwiderte,
„kannst ruhig weiter „Du“ zu mir sagen“.
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