Sie sind, wie sie unterschiedlicher nicht sein können, die fünfundzwanzig Autoren, die sich zur Produktion von „Kranichherz“ zusammengetan haben. Berufsanfänger, Rentnerin, Abiturient, Doktor, fast alles ist vertreten. Und so verschieden und bunt ist auch die literarische Zusammenstellung, die dem Leser geboten wird. Ob seufzend bei romantischer Liebesgeschichte, entspannend, mit einem Schuss Wehmut auf einer Parkbank, sich angenehm gruselnd mit einem unerklärlichen Erlebnis, dass man lieber nicht erleben möchte oder schockgefrierend, wenn das blanke Entsetzen aus den Buchseiten greift und die Nackenhaare sich aufstellen – die Mischung ist absolut gelungen und kommt auf keiner Seite langweilig daher. Und so mag der Leser manches Mal bedauernd sagen: „Schade, die Geschichte hätte ruhig etwas länger sein können.“ Aber eben darum heißen Kurzgeschichten „Kurzgeschichten“. Eines haben, trotz aller Verschiedenheit, alle Autoren gemeinsam – die Freude am Schreiben. Falls sie nicht bereits den wohlverdienten Ruhestand genießen, gehen sie einer „richtigen“ Tätigkeit nach und verdienen sich ihre Brötchen in den unterschiedlichsten Berufen, die meist mit Schreiben im literarischen Sinn nichts zu tun haben. Umso erfreulicher ist es, dass sie nicht nur schreiben, sondern auch den Mut zur Veröffentlichung finden, und für manche oder manchen bedeutet der vorliegende Band mit ihrer / seiner Geschichte eine Premiere, vielleicht ein Sprungbrett. Die Geschichten selbst sind Augenblicke des Lebens, Augenblicke, die, getrieben von der Zeit, verwehen, wie ein Blatt im Wind.
Leseprobe:
Die Waschküche von Yvonne Kronberger
Ihre Hand stockte, was war das für ein Geräusch? Es klang, als ob die schwere Stahltür ins Schloss gefallen wäre. Britt drehte sich zur Seite, um den Eingang zur Waschküche besser sehen zu können. Alles blieb still. Aber sie hatte das Geräusch trotz der laufenden Waschmaschinen deutlich gehört - oder doch nicht? Sie wartete ein paar Sekunden. Als nichts weiter geschah, wandte sie sich wieder ihrem Korb zu und stopfte die Wäschestücke schnell in die Maschine.
"Geh' so spät besser nicht mehr in den Keller!"
Mikes Worte tauchten in ihrem Kopf auf. Er hatte ja recht, aber wenn sie die Wäsche heute nicht mehr gemacht hätte, dann könnte sie morgen nicht ihre Lieblingshose tragen, und morgen war schließlich ein wichtiger Tag. Morgen musste sie unbedingt gut aussehen!
Da war es wieder, das Geräusch von eben. Ein heller, massiver Schlag, die Stahltür war ins Schloss gefallen. Britt hielt den Atem an.
‚Oh Gott, und Mike ist nicht da, niemand wird mich vermissen, niemand wird mich suchen.’
Panik breitete sich in ihr aus, ihr Magen fühlte sich plötzlich flau an. Eigentlich war sie nicht schreckhaft, stand mit beiden Beinen fest im Leben. Sie sollte einfach nach vorn gehen und nachschauen. Verdammt, warum hatte sie ausgerechnet heute die Nachrichten sehen müssen? Sonst legte sie keinen Wert darauf, zu hören, was in der Welt so vor sich ging, aber heute hatte sie den Fernseher angeschaltet, pünktlich zu den 20-Uhr-Nachrichten.
Die Worte des Sprechers hallten in ihrem Kopf nach, jetzt, wo das Adrenalin durch ihre Adern peitschte.
"Der Sexualstraftäter Michael Hallmann, der einige Wochen lang die Bevölkerung von Baden-Württemberg in Atem gehalten hat, ist heute Nachmittag aus dem Gefängnis geflohen. Nach Hinweisen aus der Bevölkerung wurde er zuletzt im Rhein-Neckar-Kreis gesehen."
Ihre Gedanken rasten, er würde die Großstädte meiden, würde sich einen kleinen Ort suchen, ein etwas am Rande gelegenes Häuschen. SIE wohnte in genau so einer Kleinstadt, am Ortsausgang.
Etwas knirschte, als ob ein Schuh leise auf einen Kieselstein träte. Wenn doch bloß diese blöde Waschmaschine endlich ruhig wäre, so konnte sie immer nur Geräusche erahnen, und in ihrem Kopf verwandelten sie sich zur Gewissheit: Dort draußen in dem dunklen Gang quer durch die Tiefgarage stand jemand. Jemand, der nur darauf wartete, dass sie aus der Waschküche herauskam, den Überraschungsmoment nutzte und über sie herfiel. Sie kannte die Zeitungsberichte über die perversen Schweine, die wehrlosen Frauen auflauerten, sie mit dem Messer bedrohten und vergewaltigten.
Oh Gott, was sollte sie tun? Besonders stark war sie nicht. Sie fühlte sich schon jetzt, allein bei der Vorstellung, was geschehen könnte, schwach in den Knien. Die Angst trieb kalten Schweiß auf ihre Handflächen, die sie geistesabwesend an der Hose abwischte. Die Hose, sie trug nur ihre Feierabend-Jogginghose, ein Leichtes für ihn, sie ihr vom Leib zu reißen. Und mit den Hausschlappen zutreten zu wollen, konnte sie sich gleich schenken.
Sie lauschte wieder in den Gang hinein, der in einer Biegung nach links verschwand. Einen Schatten konnte sie nicht ausmachen, aber er war bestimmt vorsichtig und geübt darin, sich zu verstecken und auf den richtigen Moment zu warten.
War da nicht ein leises Atemgeräusch, stockend, erregt?
Britt war sicher, wenn sie sich auch nur einen Schritt aus der Waschküche hinauswagte, würde er zuschlagen. Und wenn sie einfach hier drin bliebe?
‚Sei nicht blöd’, meldete sich ihr Verstand, ‚dann kommt er eben rein, was macht das für einen Unterschied? Wer geht auch abends um neun noch Wäsche waschen, blöde Kuh, blöde.’
Ein Stock, irgendetwas, mit dem sie sich verteidigen konnte? Fieberhaft suchte sie den Raum ab, aber außer ihrem Korb und einem Päckchen Waschpulver gab es nichts, das sie hätte in die Hand nehmen und ihrem Angreifer entgegenschleudern können. Mist, verdammter Mist! Sie könnte so schön auf ihrer Couch sitzen und lesen - aber es war jetzt müßig, zu überlegen, was hätte sein können, wenn ...
Sie fühlte, wie sich die Augenmuskeln schmerzhaft zusammenzogen und sich ein paar heiße Tränen sammelten. Bloß nicht ausflippen jetzt! Selbst ist die Frau, war doch so? Und da kam ihr der rettende Gedanke: das Waschpulver! Sie drehte sich um, versuchte mit fliegenden Fingern die Kunststoffverpackung aufzureißen. Wo war denn bloß diese Einkerbung, damit man das Plastik leicht auseinanderziehen konnte? Ihre verschwitzten Finger rutschten immer wieder von der Falzkante ab, die Tränen rannen jetzt doch ihre Wangen hinunter, und sie fühlte, wie der riesige Kloß in ihrem Bauch sich in einem trockenen, verzweifelten Schluchzen lösen wollte. Endlich gab die Verpackung nach, das Plastik riss über die ganze Seite ein. Weißes Pulver ergoss sich auf die Waschmaschine, rutschte weiter auf den Boden. Aber der Rest in der Packung reichte aus. Sie fuhr mit beiden Händen hinein. Das feine Pulver setzte sich unangenehm unter ihre Fingernägel, aber das bemerkte sie nicht. Es brannte höllisch in ihrer Wunde am Ballen der linken Hand, sie hatte sich beim Kartoffelschälen geschnitten, aber das war nichts im Vergleich zu dem, was sie im Gang erwartete.
Die Angst begann, ihren plötzlich aufgetauchten Mut der Verzweiflung zu zersetzen - jetzt oder nie! Sie hob die Hände, die sich um das bisschen Waschpulver schlossen, über die rechte Schulter. Mit ihrer einzigen Waffe im Anschlag setzte Britt langsam einen Fuß vor den anderen.
Wie viel Zeit war vergangen, seit sie den Keller betreten hatten? Es schienen Stunden zu sein. In Wirklichkeit waren es fünf Minuten. Fünf Minuten, die sie fast an die Grenzen ihres Verstandes gebracht hatten.
Sie näherte sich dem Gang, die Angst in ihrem Bauch brannte, löste sie innerlich auf. Aber jetzt zögern, würde ihr die so wichtige Überraschungssekunde wieder nehmen. Bereit, dem perversen Schwein das beißende Waschpulver in die Augen - hoffentlich zielte sie auch richtig - zu schleudern, machte sie einen schnellen Schritt um die Kurve, hinein in den Gang, in dem der Killer lauerte. Der Schritt und das Ausholen waren eins, das weiße Pulver flog in einer schönen Linie den Gang hinunter, landete dann in einem großen Streukreis auf dem Boden. Es war niemand da.
Britt spürte weder die Erleichterung, nicht in Michael Hallmanns Gesicht blicken zu müssen, noch die Angst, die wie aus einem prall gefüllten Luftballon, den man plötzlich aufstach, aus ihr entwich. Sie rannte, wie von Furien gejagt, den Gang entlang, riss die Tür zum Treppenhaus auf und schlug sie mit Wucht hinter sich wieder zu. Abschließen! Mit zitternden Fingern nestelte sie den Schlüssel aus ihrer Hosentasche, fast wäre er heruntergefallen. Das Herz schlug bis in ihren Kopf, sie hörte nichts außer dem lauten Wummern in ihrem Brustkorb. Endlich hatte sie den Schlüssel im Schloss, drehte ihn um, einmal, zweimal. Die Beine drohten ihr wegzuknicken, aber eine Pause gab es für sie erst in ihrer eigenen, sicheren Wohnung, oben, im letzten Stockwerk.
Sie fühlte sich ein etwas albern, als sie die Schuhkommode vor die Wohnungstür schob, aber sicher war sicher. Dann drehte sie auch den Schlüssel zur Wohnzimmertür um, erst danach ließ sie sich auf die Couch fallen. Als ihr Puls wieder normal war, der kalte Schweiß in ihren Handflächen getrocknet, konnte sie schon fast über sich selbst lachen. Das kam davon, wenn man eine zu große Phantasie hatte.
Im Dunkel der Tiefgarage verschmolz das gierige Augenpaar, das die Frau während der letzten Minuten beobachtet hatte, mit dem noch dunkleren Schatten des breiten Betonpfeilers vor dem Notausgang. Die Notbeleuchtung war defekt. Eingehüllt in Finsternis wartete der Mann auf sein Opfer. Er brauchte es, bald. Geduld war nicht gerade sein Stärke, doch diese Frau hatte er nicht gewollt - diese nicht.